Irritation und Verwirrung

Microcosm of Society? Ein Mikrokosmos der Gesellschaft?

by Jil Janine Hellmann, Chaclacayo, Peru, 2008-07-14

 

Two weeks ago I moved to Chaclacayo, a small town in Lima’s mountainous outskirts,

to volunteer in a home for ill and destitute children. Within the first days, my Western life became as faint an idea as the local sun which remains obscured by a thick, humid fog, laid over this region like a winter blanket. Only at night, when I return from work, or the times, I go running early before sunrise, the fog clears to open the view on a sparkling Milky Way or a pink dawn in a pale-blue sky. It is during these tranquil moments that I find the calm to reflect on my experiences and how they relate to life beyond the mountains.

Vor zwei Wochen bin ich nach Chaclacayo, eine kleine Stadt in Limas hügeligen Außenbezirken gezogen,

um ehrenamtlich in einem Heim für kranke und Not leidende Kinder zu arbeiten. Innerhalb der ersten Tage wurde mein westliches Leben eine so verschwommene Ahnung, wie die hiesige Sonne, die hinter einem dichten, feuchten Dunst, der wie eine Winterdecke über der Landschaft liegt, verdeckt übrig bleibt. Nur nachts, wenn ich von der Arbeit komme, oder morgens wenn ich lange vor Sonnenaufgang Laufen gehe, lichtet sich der Nebel und eröffnet einen Blick auf die funkelnde Milchstraße oder die pinkfarbene Morgendämmerung an einem hellblauen Himmel. In diesen stillen Momenten habe ich die Gelassenheit dazu, meine Erfahrungen und wie sie mit meinem Leben hinter den Bergen zusammenhängen, zu reflektieren.


Reina (Koenigin) und ich. Eines derkleinsten bzw. schwaechsten
Kinder dass viel weint, weil sie schnell eingeschuechtert ist.

The Hogar Francisco de Asis provides gratuitous medical treatment and shelter to infants, children and adolescents of up to 21 years of age; typical illnesses are Tuberculosis, Leukemia, respiratory diseases, severe malnutrition (for example there are 5 year old twins at the developmental level of 2 year olds, blind and possibly autistic); numerous physical impediments, such as club feet, partially missing limbs (one boy misses both arms and one leg) or burns.

Das Kinderheim Francisco de Asis bietet kostenlose medizinische Versorgung und Herberge für Kinder und Jugendliche bis zu einem Alter von 21 Jahren; häufige Krankheiten hier sind Tuberkolose, Leukämie, Atemwegserkrankungen, akute Unterernährung (zum Beispiel sind da zwei fünf Jahre alte Zwillinge im Entwicklungsstadium von 2jährigen, blind und möglicherweise authistisch); zahlreiche körperliche Missbildungen wie Klumpfüße, teilweise fehlende Gliedmaße (einem Jungen fehlen beide Arme und ein Bein) oder Verbrennungen.

Some patients stay for months, some for years before they are cured or prepared to live with their handicap; some move on to orphanages, some die. 

Einige Patienten bleiben Monate, andere Jahre, bevor sie geheilt oder auf ein Leben mit ihrer Behinderung vorbereitet sind; manche kommen ins Waisenhaus, manche sterben.

The Hogar is directed by Dr. Anthony Lazzara, a pediatrician and professor from Emory University who began an apostolate for the children of the Developing World in 1983. Dr. Lazzara opened the home around 20 years ago and since, has dedicated his life to the patients. On a first encounter one might take the slender, grey haired man for being a bit taciturn and even austere; at least the children are never slow to jump at his thundering reprimands. However, it only takes a few words and the concentrated face breaks into an enchanting smile, revealing the encouraging traces of repeated laughter; a countenance befitting of the saintly generosity with which everyone is treated.

Das Heim wird von dem Kinderarzt und Professor an der Emory University Dr. Anthony Lazzara geleitet, der es auch vor rund 20 Jahren eröffnete. Seitdem widmet er sein Leben ganz und gar den Kindern. Auf den ersten Blick wirkt der schlanke grauhaarige Mann schweigsam und streng; doch wenn er über die Kinder spricht, breitet sich sofort ein bezauberndes Lachen auf seinem Gesicht aus.

Kandi und Roxanna. Letztere ist die kichernde, dickliche, die an
terminalem Hirntumor leidet. Sie ist blind und hat starke Kopfschmerzen
und, wie an dem Samstag als wir Johnšs Abschied gefeiert haben, hat sie oft Fieber.
Trotztdem hat sie eines ihrer Lieder zum besten
getragen und viel getanzt.

My six-day week at the Hogar begins at 7am when breakfast is served and ends at around 8pm after the volunteers finish supper with Anthony. There is no explicitly defined responsibility; “Introduce yourself to the others” worded my concise instructions when I was welcomed and led into the salon, crowded with children.

Meine 6-Tage-Woche im Kinderheim beginnt um 7 Uhr mit dem Frühstück und endet gegen 20 Uhr, wenn wir Freiwilligen gemeinsam mit Anthony zu Abend gegessen haben. Es gibt keine festgelegten Aufgabenbereiche; „Stell Dich den anderen vor.“ lautete die lapidare Anweisung, als ich bei meiner Ankunft in einen Raum geführt wurde, der von Kindern wimmelte. 

In a house with beds for 42 and currently hosting 56, chaos masks a rigidly structured week.

I assist in the routines of serving meals, washing dishes, getting younger children ready for school or bed; and touring to the various hospitals in Lima (since we use the crammed microbuses of Lima’s public transport, patients in need of wheelchairs must be carried).

In dem Haus mit 42 Betten, in dem momentan allerdings 56 Bewohner untergebracht sind, verschleiert das Chaos eine strikt strukturierte Woche.

Ich helfe beim Austeilen des Essens, Geschirrspülen, mache die jüngeren Kinder fertig für die Schule oder fürs Bett und fahre mit ihnen zu den verschiednen Krankenhäusern Limas. (Seit wir die öffentlichen Mikrobusse benutzen, müssen die Kinder, die normalerweise einen Rollstuhl benötigen, getragen werden)

The more significant work – to me and I believe, for the youngsters too – is our direct interaction. Some kids mockingly call me “Professora” because I teach English, practice Spanish, Mathematics or Reading and Writing per se. I have no illusions about the educative value that my petty five weeks of training create; rather I hope to nurture confidence in the life after the Hogar; after overcoming and illness that nevertheless carries overwhelming consequences for many of the patients.

Bedeutender für mich – und ich glaube auch für die Kinder – ist unser persönlicher Umgang miteinander. Manche der Kinder nennen mich scherzhaft ‚Professora‘, weil ich ihnen Englisch beibringe, Spanisch, Mathe, Lesen und Schreiben mit ihnen übe. Ich mache mir keine Illusionen über den Lerneffekt, den ich in fünf Wochen Unterricht erreichen kann, vielmehr hoffe ich, ihr Vertrauen in ein Leben nach dem Heim stärken zu können; nach dem sie ihre Krankheit besiegt haben, die für viele Patienten so erdrückende Konsequenzen hat.

Possibly, there is nothing more shattering than the feeling that one’s life has come to a standstill; that it is suddenly devoid of one’s prospects, of its sense. A work accident paralyzing one from the hips downward, bare literacy and a deprived economic background can have exactly this effect on a young adult.

Victor, der Junge mit Beinprotheseund fehlenden Amen.
Ich mag das Foto sehr, weil es ein wenig zeigt wie,
stolz und aufsaessig er ist. Heute habe ich mein Wasser nicht mit
ihm geteilt (weil ich nicht genug fuer alle hatte) und das hat er mir
lange nachgetragen bis ich ihm erklaert habe wieso.
Anstatt zu weinen oder quaengeln, schweigt er lieber und verpasst
einem einen Tritt in die Seite, wenn man an seinem Hochsitz vorbeigeht
– das Loewenkostuem hat gepasst.
(Den Helm traegt er uebrigens immer weil er so aktiv ist undbeim Fallen
ganz schoen der Laenge nach hinschlaegt.)

Twice in the past week, two boys I talked to concluded their stories with an incredulous “why me?!”

Es gibt wohl nichts, was erschütternder als das Gefühl ist, sein Leben würde plötzlich still stehen; es wäre plötzlich ohne Perspektiven, sinnlos. Ein Arbeitsunfall, der jemanden von der Hüfte abwärts lähmt, mangelnde Ausbildung und eine schlechte wirtschaftliche Situation, bewirken dieses Gefühl bei Jugendlichen.

Zweimal in der vergangenen Woche, schlossen zwei Jungen, mit denen ich sprach, ihre Geschichte mit einem ungläubigen „warum ich?!“

At least once in life, we all crash into this timeless question and thus it is not hard to associate with the paralyzing desperation some of the patients feel. Paralyzing’ because the question is a dead-end; there is no answer but a gaping abyss. The only escape is to seek alternative prospects in the changed life situation – to dodge the question, if you want.

Mindestens einmal im Leben stoßen wir alle auf diese ewige Frage und teilen dieses Gefühl lähmenden Verzweiflung einiger Patienten. Lähmend, weil die Frage eine Sackgasse ist; es gibt keine Antwort, wir sehen nur in einen klaffenden Abgrund. Der einzige Ausweg in der veränderten Lebenssituation ist, sich alternative Perspektiven  zu suchen – der Frage auszuweichen, wenn Du willst.

Children live more or less carefree. As a newcomer I am still amazed by the facility with which the little community adapts to anyone’s needs. If you have no arms, you are given a helmet so it hurts less when you fall during a rough game of football; if you are blind you sing and dance more than run, and friends guide you. The mobile help the stationary; the older share dormitories and dining tables with the young to assist as well as oversee them – there are no “disabilities” because by that standard the whole organization would be literally disabled from functioning.

In a way it is an utopian society, open and possible to all, and realized through mutual assistance.

Die Kinder leben mehr oder weniger sorgenfrei. Als ein Neuankömmling bin ich immernoch von den Fähigkeiten verblüfft, mit denen die kleine Gemeinschaft sich den Bedürfnissen aller anpasst. Wenn Du keine Arme hast, bekommst Du einen Helm, damit es weniger schmerzt wenn du während eines wilden Fußballspiels hinfällst; wenn Du blind bist, singst und tanzt du mehr als zu rennen, und Freunde begleiten Dich. Die, die laufen können, helfen denen, die es nicht können; die Älteren teilen ihre Schlafräume und Esstische mit den Jüngeren um ihnen zu helfen und sie gleichzeitig zu beaufsichtigen – es gibt keine Unfähigkeiten, denn nach diesem Maßstab wäre die gesamte Organisation wörtlich genommen unfähig zu funktionieren.

Auf ihre Weise ist sie eine utopische Gesellschaft, offen und für jeden möglich, verwirklicht in gegenseitiger Hilfe.


Auf dem Foto ist David, der 24 Jaehrige
mit einem Baby und der 26 Jaherigen im Hintergrund.
Es ist voellig normal, dass die Aelteren und
Juengeren miteinander und nicht nebeneinanderher
leben. Ich bewundere taeglich, mit welcher Geduld
die Teenager mit den Kleinkindern umgehen
– im ganzen Haus gibt es nicht eine schliessbare Tuer
ausser dem Klo fuer die Freiwilligen zu dem nur wir
einen Schluessel haben.

Sadly though, in the outside world, where the same illnesses are not uncommon, we stare and whisper upon encountering someone with 3 degree burns in her face or any other „abnormality“. On a whole, the challenges faced by patients upon returning into their normal lives are formidable. A teenage boy told me about his anxiety of returning home: he might have his leg amputated, he became very religious as a result of his disease whereas his family and friends are atheist, he has not talked to them for several months.

Traurigerweise fangen die Menschen an zu Starren oder zu Flüstern, wenn sie auf der Straße jemandem mit Verbrennungen dritten Grades im Gesicht oder anderen „Abnormalitäten“ begegnen. Insgesamt sind die Herausforderungen, denen sich die Patienten nach ihrer Rückkehr gegenüber sehen, überwältigend. Ein Junge erzählte mir von seiner Angst nach Hause zurück zu kommen. Seit sein Bein muss vielleicht amputiert werden und er ist er sehr religiös geworden obwohl seine Familie und seine Freunde Atheisten sind. Er hat schon seit mehrere Monate nicht mit ihnen gesprochen. 

Although my life is completely stress free I am often exhausted by the children’s’ and adolescents’ demands:

the weak and small cry as a means to enforce their will; stronger and more audacious insist outspokenly; some make presents which turn out to have been lent the following day, or shower one with kisses, in pursuit for one’s time to teach, play, or chat, for candy or one’s ipod. Thus, everyone has a way of manipulation to gain love and affection.

Obwohl mein Leben völlig stressfrei ist, wundere ich mich doch oft über die Beanspruchung durch die Kinder und Jugendlichen.

Die Schwachen und Kleinen heulen um ihren Willen durchzusetzen, die Größeren und Unverfrorenen drängeln ganz offen. Manche machen Geschenke, von denen sich am nächsten Tag herausstellt, dass sie nur ausgeborgt waren, oder sie überschütten Dich mit Küssen um ein bisschen Zeit zum Lernen, Spielen oder Quatschen, Süßigkeiten oder meinem iPod zu bekommen. So hat jeder seine Art der Manipulation, um Zuneigung und Aufmerksamkeit zu bekommen. 

First, I was taken aback when this realization dawned upon me but at second thought I decided that the extreme conditions of the Hogar necessitate the behaviour – in an environment with excess demand for care and closer than usual proximity to death, human warmth becomes as essential as the medical treatment.

Als mir das klar wurde, war ich zuerst bestürzt, aber angesichts der Umstände, der Anwesenheit von Krankheit und nahendem Tod, sind menschliche Wärme und Zuneigung genauso wichtig wie die medizinische Versorgung. 

Furthermore, if we are honest with ourselves, a manipulative behaviour is common to all humans:
Und sind wir ehrlich, ist manipulatives Verhalten allen Menschen eigen denn:

How often do our own actions not depend on expectations for reciprocity?
Wie oft beruhen unsere eigenen Taten nicht auf der Erwatung von Gegenseitigkeit?

How often are recognition and care not the motives of our relationships?
Wie oft sind nicht Anerkennung und Zuwendung die Motive unserer Beziehungen?

How often do we give love truly unconditionally?
Wann lieben wir einmal wirklich bedingungslos?

 

 

Eine Antwort

  1. DJil

    Seit wenigen Tagen lebt die Website http://www.jiljanine.com, auf der meine liebe Cousine ihre Travel Journals veröffentlicht. All in english; so my dear, I am really proud of you!

    Sending back the kindest wishes to Boston with a placid autmn rain from HH and huge hugs.
    Yours Base

    November 14, 2008 um 11:30 am

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