Irritation und Verwirrung

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Zur Erinnerung an Jürgen Heinrich Simonis

Er war klug, er war ein Einzelgänger, konnte Faust Teil II auswendig und hat Zeit seines Lebens gearbeitet wie ein Pferd. Er hat mir ein Gedicht hinterlassen.
Er wollte von seinen Enkeln Großvater genannt werden. Er wünschte sich immer ein Mädchen, das er dann auch noch bekommen sollte.

Die intimsten Momente hatte ich mit ihm als Kind damals noch in der Schweiz, wenn ich mit ihm auf dem Wohnzimmertisch mit meinen Spielzeug Autos auf einer Unterlage mit Straßen und Häusern spielte. Wir gaben uns Namen, schoben die Autos hin und her, spielten Stau, hatten Pannen, parkten, verunfallten und schleppten uns ab. Er bezeichnete einmal an einem meiner Geburtstage, den Tag meiner Geburt, als den schönsten Tag seines Lebens.

An Wochenenden brachten wir die Mutter nach Deutschland zum Friseur und nutzten dann die Zeit um mit dem 17M zum Spielzeugladen Franz Karl Weber in Basel zu fahren um neue Autos zu kaufen. Ich hetschelte, pflegte und sammelte sie, das Auto spielte immer eine große Rolle, ich kannte schon als Kind bald alle Typen und Marken! Gegenüber unserer Wohnung gab es einen Chevrolet Autosalon, an dessen Scheiben wir uns regelmäßig die Nasen platt drückten.

Wir sammelten Pilze im Schwarzwald, picknickten, aßen Landjäger und von meiner Mutter in Silberpapier eingewickelte belegte Brote und rohe Gurken und wenn wir beim Spazierengehen, an einer Giftgrube der Ciba-Geigy vorbei kamen, die aussah wie Jogurt, warf er dicke Steine für mich hinein.

An den Wochenenden ging er immer mit mir zum Kiosk im Dorf, um dort etwas Süßes für mich und Zigaretten für sich zu kaufen. Im Dorf war immer etwas los und so konnte unser Spaziergang schnell einige Stunden dauern. Er sang unter der Dusche: „Wunderbar, wunderbar, eine Kuh mit Pferdehaar.“ Egal wo wir waren, mein Vater war immer der Größte und er ragte aus jeder Menschen Menge heraus!

Später in Deutschland, als wir mit mit dem BMW 520 in Hannover die Arbeiten seines Dental Labors ausfuhren und er mir mit seiner ‚zwei Finger Zange‘ ans Knie griff, um mich zu erschrecken und aus meinen Träumen aufzuwecken. Später, nach dem meine Mutter gestorben war, saßen wir oft stundenlang in der weißen Küche seines Hauses, kochten, aßen, tranken Kaffee, rauchten und diskutierten über die aktuelle Weltpolitik, Energie – über Gott und Die Welt. – Ich habe ihn geliebt!

Er war am liebsten allein. Manchmal, wenn wir unseren Besuch ankündigten – nur zu zweit – und nur kurz – lehnte er ab: „Es passt mir heute nicht.“ Er aß jeden Morgen einen stichfesten LüneBest Spezial Jogurt und mochte keine Milch. Einmal hatte er sogar ein Fax aus Deutschland an uns in die USA gesandt, auf dem er mit einem von ihm gemaltes Flugzeug sein Kommen ankündigte. Nicht ein einziges Mal hat er mich und seine Enkel besucht, immer kam etwas dazwischen, die Arbeit, die Hunde… Er liebte Italien, die Natur und hatte einen wunderschönen Rhododendren Garten, in dem im Sommer über sechzig verschiedenfarbige Büsche blüten, er liebte Tiere, besonders Hunde.

Er hat viel Geld in mich (fehl)investiert und ich habe ihn wohl enttäuscht, er nannte mich im Streit seinerzeit als Teenager aus Wut „Frei schwebendes Arschloch“, einen Nichts, was ich schon damals als eine ausserordentlich intelligente und humorvolle Wortkreation hinnahm, doch es kam noch schlimmer.

Ich wuchs bei meinem Großeltern und in Internaten auf und kam zu eigenen Entschlüssen. Noch vor kurzen versicherten wir uns unserer gegenseitigen Liebe. Er hat es sehr bedauert zu viel gearbeitet, so viele unserer/seiner Träume nicht verwirklicht zu haben, obwohl vieles möglich gewesen wäre. Er war es, der mir das Sprechen beigebrachte, was meine Kunstlehrerinnen, Frau Dunkel, damals als „gedrillte Aussprache“ quittierte.

Er war sechs Jahre alt am Ende des II. Weltkriegs, hatte Operation Gomorrha 1943 mitgemacht, „die Stadt war hell wie am Tag“, er wurde aus einem US Hubschrauber beschossen, die Familie floh aus dem ausgebombten Hamburg Barmbek ins Weserbergland. Sein Vater Walter, ein Dentist, folgte später verwundet aus dem Krieg, in dem er als Maschinist auf einem Seenotrettungskreuzer gedient hatte. Sein Sohn war mit den Wandervögeln bis Italien gekommen.

Er erzählte wenig über diese Zeit, nur das er sich damals als Junge abgelehnt und überflüssig gefühlt hatte. Er hatte alles für seinen Tod vorbereitetet, Sterbeversicherung, den Nachlass geregelt, alles war geordnet, er wollte niemandem zur Last fallen. „Wer so gewirkt im Leben, wer so erfüllte sein Pflicht und steht sein Bestes hat gegeben, für immer bleibt er euch ein Licht.“ Ich bin im Besitz einer seiner lieblings Schallplatten, Johnny Horton, Greatest Hits, die er seinerzeit für fünf Mark einem US amerikanischen GI abgekauft hatte.

Sein kleines Mädchen hat er dann doch noch bekommen. Wie er einmal ganz allein auf sie aufpassen musste, als ihr größerer Bruder mit seinem Papa in Hannover im Kinderkrankenhaus lag, da ist er noch einmal richtig aufgeblüht. Nur selten habe ich ihn glücklicher gesehen.

Am Morgen des 24. Februars des Jahres 2022, zu Beginn des Ukraine Krieges, hat ihn die Kriegsnachricht wohl umgebracht, er verstarb an einem Herzinfarkt.

Djdeutschland

Der Vogel fraß sein Eio. Da gab er mir die Schalen. Ich sollt es niemand sagen. Da sagets ich, da schlug er mich, da grien ich. Da gab er mir ein Käs ein Brot. Da schwieg ich.

Jürgen Heinrich Simonis * 2.12. 36, † 24.2. 2022